Der Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich !!

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf. Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her.

  • Uri Avnery trifft Jassir Arafat - Foto Uri Avnery 1982

  • Festakt zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2008 der Internationalen Liga für Menschenrechte. Von links nach rechts: Mohammed Khatib & Abdallah Aburama (Bürgerkomitee von Bil'in), Rachel Avnery, Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin der Liga), Uri Avnery, Adi Winter & Yossi Bartal (Anarchists against the wall) - Foto Michael F. Mehnert CC BY-SA 3.0

  • Bild Interview Sternenjaeger.ch Copyright 2012 - sternenjaeger.ch

Texte von Uri Avnery

Mar 30, 2013

Ideokratie


ENDLICH HAT sich unser Ministerpräsident für die „Einsatzfehler“, die zum Tode von neun Türken während des Angriffs auf die Mavi Marmara geführt haben, bei den Türken entschuldigt. Es war das Schiff, das die israelische Blockade des Gazastreifens zu brechen versuchte.

Er hat zwei Jahre und zehn Monate gebraucht, um dies zu tun.

Halleluja!



Ideokratie

Uri Avnery

 

ENDLICH HAT sich unser Ministerpräsident für die „Einsatzfehler“, die zum Tode von neun Türken während des Angriffs auf die Mavi Marmara geführt haben, bei den Türken entschuldigt. Es war das Schiff, das die israelische Blockade des Gazastreifens zu brechen versuchte.

Er hat zwei Jahre und zehn Monate gebraucht, um dies zu tun.

Halleluja!

Aber die wirkliche Entschuldigung hätte nicht an die Türken gehen sollen, sondern an die Israelis. Und nicht nur wegen der Fehler, die die Soldaten begangen haben.

 

DIE GANZE Affäre war von Anfang bis Ende ein Akt puren Schwachsinns. Von Anbeginn an.

Dies ist im Nachhinein leicht zu sagen. Aber meine Freunde und ich wiesen öffentlich auf die Dummheit dieser Aktion hin, bevor sie anfing.

Wie wir damals sagten, war der Schaden mit dem Stoppen des türkischen Schiffes viel größer als der Schaden, der – wenn überhaupt – verursacht worden wäre, wenn das Schiff sein Ziel hätte erreichen dürfen.

Was hätte denn im schlimmsten Fall passieren können? Das Schiff hätte vor der Küste des Gazastreifens geankert, die internationalen Aktivisten an Bord hätten einen begeisterten Empfang erlebt, Hamas hätte einen kleinen Sieg gefeiert und das wär‘s gewesen. Eine Woche später hätte sich keiner mehr darum gekümmert oder daran erinnert.

Offiziell war die Blockade von der israelischen Marine aus einem einzigen Grund auferlegt worden, um zu verhindern, dass Waffen den von der Hamas beherrschten Gazastreifen erreichen können. Wenn dies eine ernsthafte Sorge gewesen wäre, hätte die Blaue Marmara auf hoher See gestoppt und nach Waffen durchsucht werden können, um sie dann weiter fahren zu lassen. Das wurde nicht einmal in Erwägung gezogen.

Von da an ging es nur um Prestige, politisches oder persönliches Ego. Kurz gesagt um Schwachsinn.

Bei einer militärischen Aktion weiß niemand im Voraus, was geschehen wird. Die Dinge entwickeln sich nie wie geplant. Mit Verlusten muss gerechnet werden. Und wie gesagt wird: das erste Opfer in einem Krieg ist der Kriegsplan.

Der Plan ging schief. Statt geduldig den Angriff in internationalen Gewässern über sich ergehen zu lassen, hatten die Türken die unglaubliche Unverschämtheit, die Soldaten mit Stöcken und Ähnlichem „anzugreifen“. Die armen Soldaten hatten keine andere Wahl, als sie zu erschießen.

Vernünftig wäre nun gewesen, sich sofort zu entschuldigen, den Familien der Opfer großzügige Kompensationen zu zahlen und die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen.

Aber nicht so bei uns Israelis. Weil wir im Recht sind. Wie immer. Es liegt in unserm Wesen, im Recht zu sein. Wir können nicht anders.

(Ich erinnere mich an eine Fahrschule der britischen Armee in Palästina: In der Mitte standen die Reste eines zerstörten Autos mit der Aufschrift: „Aber Er hatte Recht!“)

Wir misshandelten die Passagiere, stahlen ihre Fotoapparate und anderen persönlichen Besitz und ließen sie nur nach gründlicher Demütigung gehen. Wir klagten sie an, gefährliche Terroristen zu sein. Beinahe hätten wir noch Entschädigungen für unsere Soldaten verlangt, die schließlich die wirklichen Opfer waren.

 

DIE REINSTE Dummheit von allem wurde durch die Tatsache illustriert, dass die Türkei unser engster Verbündeter in der Region war.

Die beiden Militärs hatten sehr enge Beziehungen geknüpft. Die Nachrichtendienste beider Länder waren wie Siamesische Zwillinge. Wir verkauften ihnen riesige Mengen militärischer Ausrüstung und Waffen. Wir führten gemeinsame Militärmanöver durch.

Auch zwischen beiden Völkern bestanden herzliche Beziehungen. Jedes Jahr verbrachte eine halbe Million Israelis ihre Ferien an der türkischen Küste. Der türkische Ausdruck für Touristen „alles eingeschlossen“ wurde in Israel zum Sprichwort.

Die türkisch-israelischen Flitterwochen begannen gleich, nachdem David Ben Gurion die „Strategie der Peripherie“ schuf – eine Allianz der nicht-arabischen Länder, die die arabischen Länder umgaben. Die Türkei sollte dabei eine bedeutende Rolle spielen, zusammen mit dem Iran des Shah, mit Äthiopien, Tschad und anderen.

Was lief falsch? Apologeten der Idiokraten behaupten, dass sich die Beziehungen zur Türkei sogar ohne die blaue Marmara verschlechtert hätten, da sie von der EU schon abgewiesen und gedemütigt worden sei und sie sich der arabischen Welt zuwende. Eine religiöse Partei hatte auch die Macht von den säkularen Erben des großen Atatürk übernommen und besonders die der Armee. Wäre es angesichts dieser Entwicklungen nicht klug gewesen, sogar noch sorgfältiger als vorher mit unsern Beziehungen zur Türkei umzugehen?

Stattdessen benahm sich unser stellvertretender Außenminister, ein Danny Ayalon, so ausgesprochen idiotisch, dass es in der Schule für Diplomaten als abschreckendes Beispiel gelehrt werden sollte. Er lud den türkischen Botschafter ein, um ihm einen Verweis zu verpassen, bot ihm einen Sitz an, der merklich tiefer als sein eigener war und prahlte mit der Demütigung.

Was sich tatsächlich ereignete, war, dass Ayalon das Treffen in seinem Arbeitszimmer in der Knesset hielt. In all diesen Räumen – einschließlich dem meinigen vor langer Zeit – stand ein normaler Stuhl und ein niedriges Sofa. Der türkische Diplomat fühlte sich ganz bequem und fühlte sich nicht beleidigt. Aber als Ayalon die Journalisten hereinbat, machte er sie auf die Demütigung aufmerksam. Sie veröffentlichten dies und veranlassten so, dass die türkische Öffentlichkeit vor Zorn explodierte.

Der Text der Entschuldigung war schon vor mehr als zwei Jahren formuliert. Die israelische Armee bat die Regierung, dies zu akzeptieren. Aber unser damaliger Außenminister Avigdor Lieberman legte sein beträchtliches Gewicht auf die Waage und setzte sein Veto ein. Wir sind eine stolze Nation mit einer stolzen Armee, die aus stolzen Soldaten besteht. Israelis entschuldigen sich nicht. Niemals.

 

DA NETANJAHU Lieberman fürchtet, muss er sich sehr umsichtig verhalten.

Lieberman ist jetzt ein Minister im Wartestand. Er kann sein Ministeramt nur wiedergewinnen, falls er - wenn überhaupt - von der Bestechung frei gesprochen wird, wegen der er angeklagt wurde. Aber er ist noch immer der Chef einer Partei, von der Netanjahu wegen parlamentarischer Unterstützung abhängig ist.

So ein kompliziertes Manöver muss natürlich gut vorbereitet sein. Die Entschuldigung war längst mit den Türken vereinbart worden. Präsident Obamas Besuch in Israel sollte die Gelegenheit sein, die auch dem Präsidenten die Aura eines erfolgreichen Vermittlers gab. Aber der Deal wurde erst während der allerletzten Minuten seines Besuches angekündigt.

Warum? Sehr einfach, um Netanjahu die Möglichkeit zu geben, zu behaupten, dass alles spontan geschah: während eines Telefongesprächs, das von Obama initiiert war. Daher hätte er sich unmöglich vorher mit seinem Kabinett und mit Lieberman beraten können.

Kindisch? Infantil? Tatsächlich.

 

NUR IN Israel? Ich bezweifle es. Ich fürchte, dass in den meisten Ländern, den großen wie auch kleinen, entscheidende Angelegenheiten des Staates so gemanagt werden. Und nicht nur heutzutage.

Es ist ein erschreckender Gedanke, und deshalb wird er von den meisten Leuten nicht akzeptiert. Sie wollen glauben, dass ihr Geschick in den Händen von verantwortlichen Führern mit hervorragender Intelligenz liegt. Genau wie sie sich weigern, zu glauben, dass der Himmel leer ist und kein allmächtiger Übervater mit unbegrenztem Mitleid dort wartet, um auf ihre Gebete zu antworten.

Das erste historische Beispiel äußerster Inkompetenz, das mir ins Gedächtnis kommt, ist der Ausbruch des 1. Weltkrieges. Eine Gruppe nationalistischer Serben tötete den österreichischen Thronfolger. Ein beklagenswerter Vorfall, aber sicher kein Grund für einen Krieg, in dem mehrere Millionen Menschen elendiglich umkamen.

Aber die Trottel, die den 84jährigen Kaiser in Wien umgaben, dachten, dies wäre eine Gelegenheit, einen leichten Sieg zu erringen und überbrachten den Serben ein Ultimatum. Der russische Zar, umgeben von Herzögen und Erzherzögen, wollte seinen slawischen Brüdern helfen und mobilisierte seine Armee. Sie wussten wahrscheinlich nicht, dass entsprechend einem lange zuvor vorbereitetem Militärplan, - in so einem Fall die deutsche Armee - Frankreich angreifen und zerschlagen sollte, bevor die schwerfällige russische Armee ihre Mobilisierung fertigstellen und die deutsche Grenze erreichen konnte. Der deutsche Kaiser, ein seelisch gestörter Jugendlicher, der nie erwachsen wurde, handelte entsprechend. Die Briten, die es nie liebten, von zu klugen Leuten beherrscht zu werden, eilten dem armen Frankreich zu Hilfe. Und so ging es weiter.

Konnten all diese Führer komplette Dummköpfe gewesen sein? Wurde Europa von einer alles beherrschenden Idiokratie regiert? Vielleicht. Aber vielleicht sind vernünftige, intelligente Leute unter ihnen. Ist es, dass diese Macht nicht nur korrumpiert, wie Lord Acton in seinem bekannten Ausspruch sagte, sondern auch verblödet.

Auf jeden Fall habe ich in meinem Leben so viele normale Menschen kennen gelernt, die, nachdem sie zur Macht gekommen waren, so viele dumme Dinge taten, dass letzteres der Fall sein muss.

 

ICH WÜNSCHTE, ich hätte die Willenskraft, nicht noch einmal den klassischen jüdischen Witz über den Türken zu erzählen, den ich unmittelbar nach dem Mavi Marmara-Vorfall zitierte, zu widerstehen.

Es geht um die jüdische Mutter im Russland des 19.Jahrhunderts, deren Sohn aufgerufen war, in der Armee des Zaren zu dienen. und zwar im Krieg gegen die ottomanische Türkei. „Überanstreng‘ dich nicht“; fleht sie ihn an, „töte einen Türken, und dann ruh dich aus. Töte noch einen, und ruh dich wieder aus, töte …“

„Aber was dann, wenn der Türke mich tötet?“ unterbricht der Junge.

„Dich töten?“ antwortet die Mutter erschreckend und überrascht. „Aber warum? Was hast du ihm getan?!“

Lasst uns einen Türken töten, und uns dann entschuldigen …..

(Aus dem Englischen, vom Verfasser autorisiert)