Der Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich !!

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf. Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her.

  • Uri Avnery trifft Jassir Arafat - Foto Uri Avnery 1982

  • Festakt zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2008 der Internationalen Liga für Menschenrechte. Von links nach rechts: Mohammed Khatib & Abdallah Aburama (Bürgerkomitee von Bil'in), Rachel Avnery, Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin der Liga), Uri Avnery, Adi Winter & Yossi Bartal (Anarchists against the wall) - Foto Michael F. Mehnert CC BY-SA 3.0

  • Bild Interview Sternenjaeger.ch Copyright 2012 - sternenjaeger.ch

Texte von Uri Avnery

May 26, 2018

Glück eines Spielers


Uri Avnery

26. Mai 2018

WIR ALLE kennen das Bild aus Büchern und Filmen: Ein Spieler sitzt im Spielkasino am Roulettetisch. Er hat Glück. Viel Glück.

Der Chip-Haufen vor dem Spieler wächst. Er wird immer größer. Nach jeder Drehung des Rades wird er größer.

Wenn der Haufen Augenhöhe erreicht, könnte er aufstehen, die Chips in Geld einwechseln und nach Hause gehen. Sein Gewinn würde bis an sein Lebensende für ein Leben in Luxus ausreichen.

Aber der Mann steht nicht auf. Er kann einfach nicht. Er ist auf seinem Stuhl am Roulettetisch festgeklebt. Und dann verlässt ihn sein Glück. Der Chip-Haufen beginnt zu schrumpfen.

Er könnte immer noch aufstehen und einen Teil seines Gewinnes retten. Aber er kann nicht. Er klebt am Stuhl fest. Bis er auch den letzten Chip verspielt hat.

Im Film steht der Mann dann auf, verlässt das Kasino und hält sich im Park eine Pistole an die Schläfe.



BENJAMIN NETANJAHU ähnelt einem solchen Mann. Er hat Glück. Viel Glück. Es ist schon unheimlich.

Das ganze Land sieht das Glück. Seine Beliebtheit steigt bis in die Wolken.

Die Wirtschaft blüht. Es gibt so gut wie keine Arbeitslosigkeit. Immer mehr israelische Firmengründungen werden zu astronomischen Summen ins Ausland verkauft.

Im internationalen Bereich marschiert Israel von einem Sieg zum nächsten. Der Präsident des wichtigsten Landes der Welt beträgt sich so unterwürfig, als wäre er Bibis Sklave. Die USA erkennen das ungeteilte Jerusalem als Hauptstadt Großisraels an. Der Umzug der amerikanischen Botschaft dorthin wurde am selben Tag zu einem nationalen Fest, als in Tel Aviv ein weiteres Fest stattfand: Allgemeiner Jubel über Israels Triumph im Eurovision Song Contest brach aus. Die Massen sind davon so überwältigt, als wäre es ein Sieg in einem Krieg.

Die Weltpresse nennt Trump, Putin und Netanjahu in einem Atemzug. Drei Riesen.

 

INNERHALB ISRAELS hat Netanjahu unbegrenzte Macht. Kaiser Bibi und seine Frau wirken wie ein Königspaar.

Er hat keine Konkurrenten. Jeder mögliche Konkurrent wurde schon vor langer Zeit aus der Regierungspartei ausgemerzt. Die übriggebliebenen Likud-Funktionäre wirken im Vergleich mit dem Riesen Bibi wie Zwerge. Die Koalitionspartner sind ein elendes Häuflein kleiner Parteien, deren Führer wissen, dass sie gegen Bibi keine Chance haben. Die „Opposition“ erregt bestenfalls Mitleid.

Die Institutionen der Demokratie, deren Aufgabe es ist, das demokratische System davor zu schützen, dass es zu einer Diktatur verkommt, werden eine nach der anderen zerstört und die Massen feuern zu diesem Vorgehen an. Der Oberste Gerichtshof, der Generalstaatsanwalt, der Leiter des Rechnungshofes, der Polizeichef – alle, die sich nicht unterwerfen, werden vernichtet.

Die Anklage wegen Korruption von sowohl Benjamin als auch Sarah Netanjahu, die innerhalb eines Monats abgewickelt werden könnte, zieht sich über Jahre hin, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.

 

AN DER wichtigsten Front – der arabischen – hat Netanjahus Glück unglaubliche Höhen erreicht.

Die arabische Welt war immer uneinig. Aber in der Vergangenheit war die Uneinigkeit verdeckt. Der Mangel an Koordination von Ägypten, Jordanien und Syrien ermöglichte unseren Sieg im Krieg von 1948.

Jetzt liegt die Uneinigkeit offen und extrem deutlich zutage. Etwas ereignet sich jetzt, von dem Israel in der Vergangenheit nur träumen konnte: Saudi-Arabien arbeitet fast offen mit Netanjahu zusammen und bekämpft, ebenso wie Ägypten, den Iran.

Vor zwei Wochen, am Schwarzen Montag, wurden unbewaffnete Palästinenser in Gaza massenweise abgeschlachtet. Aber in keinem einzigen arabischen Land brach deswegen eine stürmische Demonstration aus. Nicht einmal im Westjordanland. Und auch nicht in Jerusalem. Nur in Haifa fand eine kleine arabische Demonstration statt, in der ein Polizist einem bereits verhafteten gefesselten Demonstranten ein Bein brach.

Die ganze Welt sah der abscheulichen Verknüpfung zu: der Siegesfeier Netanjahus in der neuen US-Botschaft in Jerusalem, während Tausende an der Grenze zu Gaza verwundet oder getötet wurden. Und nur ein paar Stunden danach geschah der Freudenausbruch der Massen auf dem Platz im Zentrum Tel Avivs über den Sieg einer israelischen Sängerin im Eurovision Song Contest.

Die Welt sah zu und schwieg. Die internationale Reaktion auf das Massaker in Gaza blieb noch hinter dem üblicherweise heuchlerischen Minimum, das für derartige Anlässe vorgeschrieben ist, zurück. Die einzige ernste Reaktion kam vom türkischen Herrscher und wurde in Israel unter einem Haufen Hohn und Spott begraben.

In den 70 Jahren des Bestehens Israels haben seine Regierungen vorgegeben, sich nach Frieden mit der arabischen Welt zu sehnen, und davor hatte die zionistische Führung dasselbe getan. Seit der Oslo-Vereinbarung gibt die Regierung vor, auch Frieden mit dem palästinensischen Volk zu suchen, dessen bloße Existenz sie bis dahin geleugnet hatte.

Während Netanjahus Regierungszeit ist selbst diese Vortäuschung verschwunden. Anfänglich äußerte Bibi einige Worte, die als Befürwortung der Zweistaatenlösung aufgefasst wurden. Sie sind schon seit Langem vergessen. Jetzt ist sogar die Heuchelei verschwunden. Keine Friedensangebote, keine „schmerzhaften Zugeständnisse“, nichts mehr. Vollkommenes Ignorieren des (seit Langem vergessenen) saudi-arabischen Friedensplans.

Warum? Ganz einfach: Ohne Schaffung eines palästinensischen Staates gibt es keine Möglichkeit für Frieden. Ein solcher Frieden würde das Aufgeben von Teilen des „Landes Israel“ notwendig machen. Netanjahu weiß das nur allzu gut. Er denkt nicht im Traum daran, irgendetwas aufzugeben.

Schadet ihm das auf der nationalen Bühne? Im Gegenteil. Schadet ihm das auf der internationalen Bühne? Durchaus nicht. Vielleicht ist sogar auch hier das Gegenteil der Fall. Je weiter die Chancen auf Frieden in die Ferne rücken, umso größer wird Netanjahus Beliebtheit.

Ein Führer mit so viel Glück, wer wäre ihm schon gewachsen? Welcher Politiker, welcher Journalist, welcher Milliardär? Alle schmeicheln ihm. Alle wollen ihm dienen. Alle außer ein paar Idealisten und anderen Idioten.

 

WAS WIRD geschehen, wenn der unglaublich glückliche Spieler schließlich doch zu verlieren beginnt?

Die Geschichte ist voller Helden, die märchenhaftes Glück hatten. Die Länder und Kontinente eroberten, bis ihr Schicksalstag kam. Napoleon zum Beispiel. Oder sein deutscher Nachfolger, dessen Name in diesem Zusammenhang besser nicht erwähnt wird.

Jemand, der allzu erfolgreich ist, wird unvermeidlich größenwahnsinnig. Er verliert sein seelisches Gleichgewicht.

Er geht einen Schritt zu weit und stürzt in den Abgrund.

Und wenn er stürzt, nimmt er das ganze Land mit.

Vielleicht wird Netanjahus Glück noch eine Weile andauern. Vielleicht wird er immer noch weitere Erfolge haben. Bis das alles zu Ende ist.

Wohin wird sich Netanjahu von der schwindelerregenden Höhe seines Erfolges aus wenden?

Die Weisheit würde sagen, er sollte jetzt die gewonnenen Chips einlösen, die vor ihm auf dem Tisch liegen, dem Tisch, der das Land ist, und er sollte den Palästinensern und der gesamten arabischen Welt ein großzügiges Friedensangebot machen, das Israel für die nächsten Generationen den Frieden sichern würde. Es ist immer klug, wenn ein Land Frieden schließt, solange es auf dem Höhepunkt seiner Kraft ist.

Aber Netanjahu ist nicht so klug, dass er das täte. Er wird auf seinem einmal eingeschlagenen Weg bleiben.

Vielleicht wird er sich so weit zurückhalten, dass er uns nicht in einen Krieg mit dem Iran führt – einen Krieg, den beide Seiten verlieren würden. Es würde ein zerstörerischer, ein katastrophaler Krieg werden. Vielleicht ist Bibi so klug, nicht in diese Falle zu tappen. Es sei denn die strafrechtlichen Ermittlungen führten zu nahe an einen Prozess heran und seine persönliche Zukunft würde gefährdet. Krieg ist immer die letzte Rettung nationalistischer Machthaber.

Selbst wenn es keinen Krieg geben wird, so führt Bibis Kurs doch in Richtung eines Apartheidsstaates. Es gibt einfach keine andere Möglichkeit. Der „Jüdische Nationalstaat“ vom Mittelmeer bis zur Wüste mit arabischer, unaufhaltsam wachsender Mehrheit, bis sich eines Tages das Kräfteverhältnis im Staat umkehrt, die internationale Situation sich ändert und die Willenskraft des „Herrenvolkes“ nachlässt.

Das ist in der Geschichte immer wieder geschehen und es wird auch uns geschehen. Der jüdische Staat wird sich in einen binationalen Staat mit einer immer kleiner werdenden jüdischen Minderheit verwandeln, da Juden in einem solchen Land nicht werden leben wollen.

Wann? In fünfzig Jahren? In hundert Jahren? Am Ende des ruhmreichen zionistischen Kapitels werden sich die Juden wieder in alle Welt zerstreuen.

 

ICH BIN nicht gerne ein Unheilsprophet. Mir tut das Herz weh, wenn ich sehe, wie sich die Massen von Netanjahus Charisma einfangen lassen und ihm in den Untergang hinterherlaufen. Das erinnert mich an die bekannte Sage vom Rattenfänger:

In Hameln gab es einmal eine Rattenplage. Die Bürger riefen in ihrer Not einen bekannten Rattenfänger in die Stadt und versprachen ihm einen reichlichen Lohn.

Der Rattenfänger nahm seine Flöte und spielte darauf. Die Melodie war so süß, dass alle Ratten aus ihren Löchern kamen und ihm hinterherherliefen. Der Rattenfänger führte sie in den Fluss, wo sie alle ertranken.

Als die Bürger die Ratten los waren, wollten sie ihm den versprochenen Lohn nicht zahlen.

Da nahm der Rattenfänger wieder seine Flöte und spielte noch einmal darauf. Die Melodie war so süß, dass alle Kinder der Stadt aus ihren Häusern kamen und ihm hinterherliefen. Er führte sie in den Fluss, wo sie alle ertranken.*

Der Rattenfänger Bibi Netanjahu. Angsteinflößend.

 

*In Deutschland ist die Fassung der Brüder Grimm weiter verbreitet. Dort heißt es: „Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. ...Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg, wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden. Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.“ (http://literaturnetz.org/5504)

 

(Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler)